Das grüne Ressentiment

Die Grünen, Paul Bonatz und die „Adolf-Hitler-Kampfbahn“

versus Stuttgart 21

Die Proteste gegen Stuttgart 21 nehmen zu und werden immer grotesker, wie ein Gebet, eine Fürbitte bzw. ein „Geloben“ für den Schutz des „Nordflügels“ des Stuttgarter Hauptbahnhofes und andere involvierte Gelände eindrücklich zeigt. Als ich kürzlich als Tourist in Ludwigsburg durch die Innenstadt lief sah ich einen vielleicht 64jährigen Mann völlig aufgeregt auf zwei entfernte Bekannte zulaufen und einreden: Stuttgart 21 sei das Ende der Welt, eine Katastrophe, was die Bahn sich erlaube etc. etc. Es war ein ganz normaler Bürger, der aufgrund seiner Erzählung nicht so wirkte, als ob er je zuvor in seinem Leben politisch aktiv war. Was ist los in Stuttgart?

Eine Initiative K21, „Kopfbahnhof“ Stuttgart, ist aktiv gegen das Mega-Projekt. Am 20. August 2010 findet in Stuttgart eine Demonstration gegen das Projekt Stuttgart 21 statt, Hauptrednerin ist die Grünen Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag aus Berlin, Renate Künast. Sie reden vom „Bürgeraufstand“ – man merkt was die einfachen und andere Leute so wirklich bewegt, heutzutage: nicht etwa ein atomarer Iran, bestückt mit Atomkraftwerken wie möglichen Nuklearwaffen, nicht die Hetze gegen den jüdischen Staat Israel von Seiten des Iran, der arabischen, muslimischen Welt wie auch im Westen, oder wenigstens die Menschenrechtsverletzungen im Iran, nein: ein Infrastrukturprojekt treibt die Leute um.

Wer die aktuellen Umfrageergebnisse für die Grünen bundesweit sieht und wenn man bedenkt, dass diese Wohlfühl-Partei, inclusive ihrem Wohlfühl-Antisemitismus aus Tübingen, in Stuttgart bei der Gemeinderatswahl 2009 die meisten Stimmen bekam und damit erstmals in einer Großstadt in der Bundesrepublik die Grünen die stärkste Fraktion sind, wird deutlich, dass hier der Volksmund spricht.

Am Montag, den 23. August 2010 wird auf der „40. Montagsdemo“ (!) um 18 Uhr der Tübinger OB Boris Palmer, der Gewerkschafter Bernd Wuttig und Axel Mayer, Regionalgeschäftsführer beim BUND Südlicher Oberrhein in Freiburg sprechen, Musik: Three Times a Lady.

Wenn Boris Palmer gerade mal nicht Juden verbal attackiert, also Holocaustüberlebende und deren Rede mit dem Nationalsozialismus oder dem „Wilhelminischen Imperialismus“ analogisiert, setzt er sich für Bauten eines Architekten wie Paul Bonatz ein, der den reaktionären, antimodernen Zug deutscher Architektur repräsentiert. Bonatz war sehr aktiv im Nationalsozialismus und Palmer wie viele Grüne mögen das offenbar.

Irgendwie braun sind im Ländle keineswegs nur die Filbingers oder die Haselnüsse…

Stuttgart – das ist Deutschland.

Ein Aspekt wurde bislang kaum berücksichtigt: was ist eigentlich moderne Architektur und für was steht der Stuttgarter Hauptbahnhof? Das sichtbarste Zeichen, dass sich das Halten von Sklavenarbeiterinnen und Sklavenarbeitern im Nationalsozialismus lohnte ist natürlich der große Stern von Mercedes-Benz auf dem Dach des Hauptbahnhofs, weithin sichtbar bei der Einfahrt in den Kopfbahnhof.

Wer diesen Bahnhof seit Jahrzehnten kennt und benutzt, ist erstmal erstaunt über die plötzliche Liebe zum „Nordflügel“, der bislang so gar keine Bedeutung hatte. Dabei soll das Hauptgebäude ja sogar stehen bleiben – das wird sich hoffentlich noch ändern.

Kein Mensch jedoch stellt den Architekten des Stuttgarter Hauptbahnhofes in Frage, Paul Bonatz (1877-1956). Der Hauptbahnhof war sein Durchbruch als Architekt.

Dabei stellt sich doch die Frage: wie kam es, dass der Architekt des Stuttgarter Hauptbahnhofes mit Adolf Hitler persönlich diskutierte, sich 1943 über ein Projekt nicht einigte, aber gleichwohl bis dahin dem Führer treu ergeben war und sehr aktiv war mit Projekten aller Art und kein Mensch heute darauf abhebt?

Niemand scheint sich daran zu stören, dass gerade Bonatz die 1933 eingeweihte Kochenhofsiedlung mit konzipierte, die als dezidiertes Gegenprojekt zum Neuen Bauen der Weißenhofsiedlung, die 1927 eröffnet wurde, gedacht war. Bonatz war Teil der Agitation gegen die Moderne, gegen helle Fassaden, flache Dächer, funktionale Räume und er war ein Kämpfer für das Walmdach. Bonatz war auch Architekt im „Jahr des Heils“ (O-Ton von Zeitzeugen), 1933, der „Adolf-Hitler-Kampfbahn“ (etwas später wurde der Name natürlich geändert, es ist heute das Stadion des VFB Stuttgart), was nicht verwundert wenn man weiß, dass sein Kumpel Paul Schmitthenner, führende Figur bei der Planung der Kochenhofsiedlung auf dem Killesberg, 1933 Mitglied der NSDAP wurde.

Ich erinnere mich gut an ein Seminar über das Automobil am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft in Tübingen, das ich Mitte der 1990er als Student besuchte. Auch die Zeitschrift „Die Strasse“ untersuchte ich, einer der Autoren und vor allem ein Mitarbeiter bei der Gestaltung der Reichsautobahnen war Paul Bonatz. Ich fand es schon damals nervig im „Bonatzbau“ der Universitätsbibliothek Tübingen arbeiten und Bücher in den dortigen Lesesaal bestellen zu müssen.

Es ist kein Zufall dass der einflussreichste Vordenker des modernen Rechtsextremismus und Mitbegründer der Neuen Rechten, der 1942 geborene Henning Eichberg, der in den 1970er Jahren in Stuttgart an der Universität lehrte, Bonatz oder auch Friedrich Eugen Scholer für deren Architektur lobte. Le Corbusier ist ein Feindbild der Völkischen, von Bonatz bis Eichberg. Die Formzentriertheit Corbusiers wollte weg vom heimattümelnden, althergebrachten Mief Alteuropas.

Wollen die heutigen, vor Ressentiment schäumenden Gegner von Stuttgart 21 dahin zurück? Schon wieder eine „Zukunft für die Vergangenheit“, wie der Stuttgarter Soziologe Wolfgang Pohrt schon vor Jahrzehnten schrieb?

Stuttgart 21 ist sicher ein wenig sinnvolles Projekt, allein schon die Streckenführung Richtung Ulm wirkt absurd. Doch der Kapitalismus basiert nicht darauf, Sinnvolles zu bauen, sondern überhaupt zu bauen. Die Selbstverwertung des Werts, welcher die zyklische Entwertung innewohnt wie das Gewitter in der Wolke, schreit nach mehr.

Wer darüber hinaus nichts von der Landschaft sehen möchte – und in all den Tunnels Richtung Ulm wird’s nix zu sehen geben – , kann auch während dem Reisen schlafen.

Doch eine Umgestaltung des Hauptbahnhof Quartiers könnte Stuttgart eventuell ein bisschen mehr frische Luft der weiten Welt geben. Etwas weniger Nazi-Mief à la Bonatz. Vielleicht jedenfalls.

Gefährlich jedoch ist das geradezu völkische, Bonatz anhimmelnde Ressentiment gegen moderne Architektur, gegen Veränderung und Neues. Man muss ganz sicher kein Fan von Stuttgart 21 sein, um das Ressentiment seiner Gegner als Gefahr für die Demokratie und als klammheimliche Freude über einen Architekten, der mit den Nazis kooperierte und zwar ideologisch wie praktisch, zu erkennen.

Es gibt auf dieser Welt viele Probleme und große Gefahren, über die zu diskutieren und Widerstand zu organisieren dringend nötig wäre. Stuttgart 21 gehört nicht dazu.

Dr. phil. Clemens Heni ist Politikwissenschaftler und Autor. Er lebt in New Haven/USA und Berlin. 2006 reichte er seine Dissertation „Salonfähigkeit der Neuen Rechten“ an der Universität Innsbruck ein, darin kritisierte er auch Paul Bonatz. Seit den 1970er Jahren ist er regelmäßig Gast im Stuttgarter Hauptbahnhof.