Von Dr. phil. Clemens Heni, 9. Juli 2017

Die Gesellschaft in diesem Land erlebte die letzten Tage in Hamburg bei dem G20-Gipfel und den Protesten dagegen ultimativ, was es heißt, unter einer Großen Koalition zu leben.

Die Demokratie wird vom Staat mit Pfefferspray, unzähligen Hundertschaften, über 20.000 uniformierten und munitionierten Polizist*innen, SEK-Einheiten mit Maschinenpistolen im Anschlag, Knüppeln, brüllenden Polizist*innen und Menschen wie Dreck vom Pflaster wegspritzenden Wasserwerfern massiv beschädigt und bekämpft.

Freie Meinungsäußerung? Pustekuchen. Freie Presse? Von wegen. Verhältnismäßigkeit bei kleineren „Vergehen“ wie Vermummung? Niemals.

Das ganze Establishment dreht völlig durch und bezeichnet nun Randalierer, Gewalttäter und kriminelle Plünderer als „Linksfaschisten“, Außenminister Gabriel vergleicht gar die Randale von Hamburg mit tödlichen Brandanschlägen von Neonazis.

Keinerlei Unterschied scheint es zu geben zwischen dem Mord an als nicht-deutsch Stigmatisierten, wie ihn Neonazis begehen, und Kritik am Kapitalismus, so sinnlos und brutal die sich auch Freitagnacht im Schanzenviertel Hamburgs gezeigt haben mag.

Es waren zudem definitiv nicht nur politisch organisierte linke Aktivisten vor Ort, wie Augenzeugenberichten festhalten. Es war eine Mischung aus brutalen Aktivisten (auch internationalen), gewaltaffinen „Partygängern“, Frustrierten (die mal nen teuren Whiskey oder ein I-Phone klauen wollten) oder schlicht Trotteln.

Die Autonomen von der Roten Flora haben sich selbst von den Exzessen distanziert.

Der Spiegel-Online-Autor Sven Becker war an jenem Freitagabend im Hamburger Schanzenviertel unterwegs und kontextualisiert die Gewalt, zeigt soziale Problemlagen auf etc. Damit rechtfertigt er keine Gewalt, relativiert sie aber. Wir reden hier nicht über „Bürgerkrieg“ oder „Terrortaten“, wie viele Durchgeknallte es nun tun. Dann hätten sie einfach mal in Aleppo oder Mossul sein sollen, bevor sie so dumm daherreden.

Der Mainstreamdiskurs läuft so: Links gleich Rechts, die Extremismus- und die Totalitarismustheorie, das Lieblingskind nicht nur von Joachim Gauck („Prager Deklaration“ von 2008), das sind die bekannten Agitationswerkzeuge derjenigen, die Kritik diffamieren wollen und für die Gewalt immer nur von den anderen ausgeht.

Ist es keine Gewaltförmigkeit jene, die Auschwitz befreiten, mit denen auf eine Stufe zu stellen, die Auschwitz bauten und betrieben? Man ist kein Stalinist und verharmlost keine Millisekunde den Stalinismus, wenn man auf dieser alles entscheidenden Unterscheidung des 20. Jahrhunderts besteht: Rot ist nicht gleich Braun.

Wer das behauptet, möchte die Deutschen entlasten und entschulden und die präzedenzlosen Verbrechen des Nationalsozialismus, der Shoah und der deutschen Volksgemeinschaft banalisieren.

Hierzulande hießen und heißen die Revanchisten Nolte, Baberowski oder Horst Möller, und in USA heißen sie eben Timothy Snyder (schade, dass er auch noch aus YALE kommt, meiner Alma Mater).

Dabei gilt es die Randale und Kritik am Kapitalismus auf eine andere Ebene zu bringen. Das pro-kapitalistische Apriori von Merkel und allen G20-Beteiligten ist ja himmelschreiend und unerträglich.

Der Suhrkamp-Verlag hat 2016 ein Büchlein mit dem Titel Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Das Brecht-Brevier zur Wirtschaftskrise publiziert.

Nun ist es wichtig und richtig, kapitalistische Vergesellschaftung zu kritisieren. Linke Zionisten tun und taten das auch, ja die Verbindung von Sozialismus und Zionismus war für die frühe zionistische Bewegung und später für die ersten Jahrzehnte des Staates Israel von enormer Bedeutung.

Es gibt aber hierzulande seit sehr langer Zeit eine höchst gefährliche Form der Banken- oder Kapitalismuskritik, die gutes („schaffendes“) vom bösen („raffendem“) Kapital unterschieden wissen möchte. Die anti-mammonistische Agitation ist da nicht weit, und die Forschung hat dazu katholische Beispiele aus der Weimarer Republik, sodann Nazipropaganda aber auch Post-Holocaust Agitation gegen Mammon von der (radikalen) Linken analysiert.

Zu dieser Form antisemitischer Kapitalismuskritik, die im Kern das Kapitalverhältnis affirmiert und nur böse Einzelne als Schuldige präsentiert, gesellt sich seit 2005 die BDS-Bewegung (Boycott Divestment Sanctions), die Israel dämonisiert, mit doppelten Standards betrachtet und delegitimiert (die 3Ds, Demonization, Double Standard, Delegitimization).

Doch diese Debatten spielten in Hamburg offenbar kaum eine Rolle.

Die Eskalation ist eine Blamage für die Demokratie“, wie es Jan Thomsen, Journalist bei der Berliner Zeitung, in Worte fasst.

Es waren polizeistaatsmäßige Festspiele der zynischen Art. Zu Beethovens Neunter und der Passage „Alle werden Brüder“ (und Schwestern) in der offenbar ausschließlich für diesen einen Anlass gebauten Elbphilharmonie werden Islamisten, Sexisten und antidemokratische Staatsoberhäupter wie Erdogan, Trump oder Putin und aus anderen Teilen der Welt wie Lateinamerika oder China getätschelt.

Sie beklatschen sich selbst während draußen Linke und Kritiker*innen mundtot gemacht werden sollen, vor Angst zittern, heulen und vor Schmerzen, brennenden Augen und Atemnot umfallen.

Und dann gibt es jene selber ernannten „Antideutschen“, die dieses Land im Kern affirmieren und feixend den live-ticker auf Facebook oder im Fernsehen die Live-Reportage sehen, genüsslich ihren Kaffee im aseptischen, ausbeutungsfreien Starbucks schlürfen und hoffen, dass noch die letzten autonomen Zentren geräumt und zerstört werden.

Diese marginale Gruppe von turbo-neoliberalen prodeutschen Antideutschen, die die G20-Proteste schon im Vorfeld diskreditierte und dabei häufig „nur“ die antisemitischen Elemente der Proteste anführte und damit ALLE Linken meinte (da lacht die BILD-Zeitung natürlich), fühlt sich umso cooler, als sie sich pro-israelisch gibt.

Dazu geben Teile der Linken, der antisemitische Flügel, seit Jahrzehnten zur Genüge Anlässe. So wie jetzt wieder (kleine?) Gruppen bei den G20-Protesten, die die „Einstaatenlösung“ für den israelisch-palästinensischen Konflikt (der ja Teil des arabisch-israelischen Konfliktes ist, was viele nicht sehen) präferieren und somit den jüdischen Staat Israel auflösen wollen und sich ironischerweise mit der extremen (nationalen, religiösen) Rechten in Israel treffen.

Polizist*innen schlugen die letzten Tage brutal und mit einer gleichsam militärischen Ausrüstung zu. Journalisten wurde von Polizistinnen und Polizisten ins Gesicht „Fuck the Press“ geschrien und wenig später Pfefferspray ins Gesicht gesprüht – staatliche Körperverletzung und Aussetzen von Grundrechten. Das ist nicht nur Istanbul, Izmir oder Ankara 2017. Das ist nicht nur Erdogan. Das ist Deutschland 2017. Das ist die Große Koalition. Das ist die SPD Hamburg. Das ist die Polizeiführung Hamburg. Das ist die Merkel-Gabriel-Regierung. Das ist G20.

Die zentrale linksradikale, autonome Demonstration „Welcome to Hell“ wurde gar nicht erst laufen gelassen und Vermummung von kleineren Teilen der Demo wurde zum Anlass genommen, mit äußerster Brutalität eine Demo regelrecht zusammenzuschlagen und das Grundgesetz außer Kraft zu setzen.

Das ist Teil des elenden Erbes von Helmut Kohl, über dessen „geistig-moralische“, ergo: nationalistische „Wende“ und Antisemitismus (Bitburg, SS-Gräber) ja so gut wie niemand redete bei dessen peinlich-monströsem EU-Staatsbegräbnis.

Unter Kohl wurde nämlich die Vermummung 1985 von einer Ordnungswidrigkeit zu einer Straftat uminterpretiert.

Der Protest an sich wurde von Seiten des Staates mit vielen Wochen Vorlauf vollständig diskreditiert. Die bekannten Agitationsplattformen wie WELT (Poschardt), Achgut (Maxeiner), die CDU und viele andere überschlagen sich nun mit „Linksfaschismus“-Gerede.

Sie wollen Nazi-Gewalt trivialisieren und Mord und Plünderung gleichsetzen.

Manche verglichen die antisemitischen Pogrome vom 9. November 1938 mit der Randale in Hamburg. Diese Verharmlosung des Nationalsozialismus läuft in Deutschland runter wie Honig. Es entlastet und die reaktionären Bürger fühlen sich wohl dabei.

Was in Hamburg passierte, wie es kommentiert und eingeordnet wird, schädigt die politische Kultur in diesem Land über viele Jahre hinweg.

Über den Suhrkamp-Band Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank von Brecht könnte man lebhaft diskutieren. Manche könnten lernen, dass es auch eine nicht antisemitische Kapitalismuskritik geben kann und dass gar viele Zionisten vor und nach der Gründung des Staates Israel antikapitalistisch drauf waren und sind.

Wären wir im Jahr 1967, würde es nächstes Jahr ein 1968 geben.

©ClemensHeni