Wissenschaft und Publizistik als Kritik

Monat: Juli 2017

Koscherstempel für faschistische Autoren und das Goutieren des Massenmords an Linken durch Breivik? Die von Israelis betriebene Berlin-Neuköllner Buchhandlung „Topics“

Von Dr. phil. Clemens Heni, 27. Juli 2017

Der Berliner Tagesspiegel (Nantke Garrelts) berichtet mit der reißerischen Überschrift „Buchladen schließt nach Attacken von links“[i] über die Schließung der Neuköllner Buchhandlung „Topics“, einer von zwei Israelis betriebenen Einrichtung in der hippen Weserstraße. Die Grüne Bezirksbürgermeisterin von Kreuzberg, Monika Herrmann, findet die Schließung demnach „verstörend“. Einer der Betreiber des Ladens, Doron Hamburger, teilte dem Tagesspiegel schriftlich mit, ein Gespräch mit „mehreren Vertretern der antifaschistischen Szene scheiterte“.

Linke gegen einen von Israelis geführten Buchladen: das ist natürlich für die Springer-Tageszeitung Die Welt (Hannah Lühmann) ein gefundenes Fressen.[ii] Lühmann schreibt unter der Überschrift „Nach Drohungen der Antifa muss Buchladen schließen“: „Die Enkel von Holocaustüberlebenden werden in Berlin von wild gewordenen Antideutschen vertrieben“ und resümiert:

„Amir und Doron wollen jedenfalls nicht mehr; sie haben sich entschieden, aufzugeben. Die beiden sind natürlich weit davon entfernt, rechts zu sein, der Vorwurf ist völlig abwegig. Man hat das Gefühl, sich mit Leuten zu unterhalten, die nach dem suchen, was intellektuell stimulierend ist, und die nicht in den langweiligen Bahnen vorgeformten Diskurshipstertums bleiben, das leider vielfach das weltanschauliche Milieu junger, linker Akademiker ausmacht. Mit Leuten, die nachdenken, neugierig sind, offen, radikal, die sich für die moralische Ambivalenz interessieren, und für das Dunkle.“

Lühmann ist total begeistert, dass das Topics „Abgründe ausloten“, also gerade nicht aufklärerisch und antifaschistisch, sondern kokettierend über Faschismus und Nazismus reden wollte.

Die neurechte Junge Freiheit berichtet ebenfalls geknickt über die Schließung des Topics, immerhin war schon mal ein JF-Autor dort Referent (wie der Freitag berichtet),[iii] und auch die Wochenzeitung Die Zeit schreibt sehr wohlwollend und mit einer Attacke auf die bösen „Antideutschen“ über die beiden israelischen Buchhändler. Der Zeit-Autor Armin Langer[iv] hingegen war bislang eher für seine Trivialisierung des Islamismus und muslimischen Antisemitismus (namentlich in Neukölln) bekannt.

Die Deutsche Welle (DW) informiert auf Englisch (Ben Knight) über das Aus des Buchladens,[v] die Berliner Zeitung (Tanja Brandes) ist ebenso entrüstet und betont die „psychischen Folgen der Hetze“ gegen die Betreiber[vi] und der Freitag (Mladen Gladic) redet von „intoleranten Linksaktivisten“.[vii]

Kritik an der geplanten Evola-Veranstaltung kam offenkundig am 27. Februar 2017 via Facebook (worüber sich die Gruppe selbstironisch lustig macht) von der Gruppe Top Berlin,[viii] die ein vielfältiges Spektrum an linker Gesellschaftskritik zu repräsentieren scheint, Kritik an der islamistischen Hamas und anderen Formen des Antisemitismus wie auch Veranstaltungen zum Gedenken an die Shoah gehören dazu.[ix]

Ob jedoch die sich radikal vorstellende Kritik von Top Berlin, die Gruppe ist Teil des bundesweiten Bündnisses „Ums Ganze“,[x] versteht, dass ihre Kritik an jeder Staatlichkeit auch Israel und den Zionismus meinen müsste und somit dem Antisemitismus Vorschub geben würde, ist unklar. Es gab anarchistische Zionisten wie Gershom Scholem, der gleichwohl erkannte, wie überlebensnotwendig (!) Staatlichkeit ist, wenn man sich nicht wehrlos von arabischen, muslimischen oder sonstigen Judenhassern abschlachten lassen möchte. So ist eines der Motti von Top Berlin „No Border, no Nation“ angesichts Israels völlig realitätsfern und selbstmörderisch. Der von Ariel Scharon initiierte Sicherheitszaun schützt Israelis vor Selbstmordattentaten und anderen (Mord)Anschlägen. Top Berlin ist also kaum eine „antideutsche“ Gruppe, sondern eher Teil der traditionellen radikalen Linken.

Die Kritik von Top Berlin bezog sich zudem ausschließlich auf Evola. Doch der Skandal ist noch viel krasser.

Der vorgesehene Topics-Referent und Freund des Betreibers Doron Hamburger, DC Miller, hätte also am 2. März 2017 in der Buchhandlung Topics in der Neuköllner Weserstraße über Evola referieren sollen. Am 28. Februar sagte der Laden die Veranstaltung ab, wie man in einer Stellungnahme auf Facebook lesen kann. Dort meldet sich auch der vorgesehene Referent DC Miller zu Wort. [xi]

In seinem Text für die Veranstaltung schreibt Miller über Evola, dieser habe zwar bekanntlich Beziehungen zu Faschisten und Nazis gehabt, er sei „aber“ halt auch „Dadaist, Philosoph, Historiker und Magiker“ gewesen, ja sei von Rechten als „unser Marcuse, nur besser“ bezeichnet worden. Theoretiker wie der Russe Alexander Dugin, ein Übersetzer Evolas ins Russische, oder der Amerikaner Steve Bannon, ein Einflüsterer Trumps und Symbol der Alt Right im Weißen Haus, seien Anhänger des faschistischen Theoretikers. Das schreibt Miller nun nicht in einem aufklärerisch-antifaschistischen Duktus oder wenigstens in einem distanziert-neutralen Text, sondern in einer euphorischen, begeisterten, affirmativen Tonlage.

Am 22. Februar hatte die englische Tageszeitung The Guardian kritisch über die Galerie LD50 und deren Bezüge zum Neonazismus berichtet.[xii] Namentlich erwähnt der Guardian Brett Stevens, der eine rechtsextreme Konferenz im LD50 im August 2016 mit vorbereitete und an eben jenem 22. Februar 2017 als Reaktion auf den Guardian-Bericht noch einmal klarstellte, was seine Position ist:

„Ich bin Anders Breivik aus anderen Gründen unendlich dankbar, als viele vermuten. Die meisten Rechten, die gewalttätig werden und sich der Gefahr eines weißen Genozids bewusst sind, tendieren dazu, den Anderen umzubringen; ich singe ein Loblied auf Breivik, weil er gerade anders handelte, er erschoss Mitglieder von UNS, die Linke geworden waren und machte klar, was für einen Preis man zahlen muss, wenn man links wird. Breivik trieb die Leute davon weg, bei dieser pathologischen, kultmäßigen Gang von Zivilisationszerstörern mitzumachen.“[xiii]

Diese Bejahung von Terror und Mord ist unfassbar und wohl nur in USA, wo er das wohl im Netz publizierte, straffrei. DC Miller jedoch möchte genau einen solchen Hetzer wie Brett Stevens reden lassen. Und das Topics wollte DC Miller reden lassen. Das ist der Skandal, der für die Welt, die Zeit und den Tagesspiegel keiner ist.

Am 25. Februar 2017 protestierte eine lautstarke Gruppe von über 100 Antifaschist*innen gegen die Galerie LD50 im Osten Londons im Bezirk Hackney, übrigens einer Partnerstadt von Haifa. Der Bürgermeister von Hackney, Philip Glanville, spricht sich gegen die Galerie aus, wie das Magazin Vice (Yohann Koshy) berichtet.[xiv] Slogans wie „Death to Nazi Hipsters“, die laut Vice Demoparolen waren, sind angesichts von Nazigewalt nachvollziehbar, aber sicher nicht sinnvoll, die Betonung der Kombination von vorgeblich apolitischen Hipstern und Nazis ist gleichwohl von einiger Bedeutung.

Vice betont, dass die Galeriebetreiberin, Lucia Diego, zugibt, Brett Stevens erlaubt zu haben, für die Konferenz zu werben. Auf die Vice-Nachfrage, warum denn dann sogar Anmeldungen zu ihrer Konferenz im August 2016 über den E-Mail Account von einem Brett Stevens aus USA gingen, der selbst Redner, aber in London nicht dabei war, gab es keine Antwort mehr.

Die New York Times (Christopher D. Shea) berichtete noch am Tag der Demonstration in London über die Proteste gegen die Galerie LD50 und zitiert die spanische Betreiberin, die seit 12 Jahren in England lebe, dass sie zwar „Antisemitismus, Homophobie und Misogynie“ nicht teile, aber die „Linken“ würden doch „Juden, Homosexuelle und Frauen“ viel zu „doktrinär“ verteidigen.[xv]

Der für Neukölln von Topics vorgesehene Referent DC Miller spielte auf der Demonstration gegen das LD50 den Helden und protestierte am Samstag, den 25. Februar 2017, alleine für die Galerie und hielt einen Pappkarton mit der Aufschrift „the right to openly discuss ideas must be defended.“[xvi] Da lacht die Internationale der Holocaustleugner.

Die allgemeine rechtsextreme Agitation, eine Ausstellung kurz nach der Wahl Trumps zu allen möglichen Pro-Trump Äußerungen der extremen Rechten während des Wahlkampfs, wie auch die rechtsextreme Konferenz im August 2016 sind der Hintergrund, vor dem die 2015 eröffnete Galerie LD50 in London so massiv in der Kritik steht. Die irische Künstlerin und Schriftstellerin Megan Nolan schreibt, dass Kunst sehr wohl ihr Recht habe, aber wenn „Faschismus im Gewand der Kunst“ daherkomme und die „Menschlichkeit von uns“ oder der „Nachbarn“ (im Osten Londons) bedrohe, dann sei Widerstand nicht nur „akzeptabel, sondern obligatorisch.“[xvii]

Was wir im Zuge der Reaktionen auf die angekündigte Schließung des Topics erleben, ist eine ganz neue Volksgemeinschaft in Deutschland: extreme Rechte (Junge Freiheit), vorgeblich liberaler Mainstream (Die Zeit), konservative, rechte Mitte (Welt) und viele andere Zeitungen und Autor*innen promoten einen von zwei Israelis betriebenen Buchladen, der einen Referenten vorgesehen hatte, der wenig zuvor eine Londoner Galerie verteidigte, die mit Leuten wie Brett Stevens kooperiert, der ganz offen den Massenmord an Jungsozialisten durch Anders Breivik im Juli 2011 feiert!

Das sind die Töne im neuen Deutschland. Wir haben es hier mit einer anti-linken Volksgemeinschaft zu tun, die Juden oder Israelis benutzt, um Kritik am Faschismus oder Nazismus und dem Massenmord an Linken in Norwegen zu diffamieren und sich hinter Unterstützer (DC Miller) von Verteidigern und Fans (Stevens) eines antilinken, neonazistischen Massenmörders (Breivik) stellt. Die bösen sind die Antifas, die den Agitator DC Miller kritisieren. Antifaschismus ist böse, nicht Faschismus. Das ist Deutschland. Never again kommt zu spät.

Dieser von zwei Israelis betriebene Laden Topics machte freudestrahlend mit, weil sie selbst mit einer Verteidigung eines Massenmords an Linken oder dem Promoten von faschistischen Autoren ganz offenkundig kein wirkliches Problem haben und alles unter die erbärmliche und gerade von Holocaustleugnern seit Jahrzehnten propagierte „freie Rede“ rubrizieren. Da lacht die Anti-Antifa deutscher Neonazis.

Es ist gut, dass ein Laden wie Topics zugemacht hat.

Das reaktionäre, antilinke, pronazistische Denken, das Liebäugeln mit historischen Faschisten wie Evola und das Goutieren des Massenmords an Jusos durch Breivik von Freunden der Topics-Betreiber indizieren hingegen eine politische Kultur in Amerika im Zeitalter des Trumpismus und in Deutschland, die bleiben wird.

Sicher ist so ein Liebäugeln und Goutieren in der Bundesrepublik mit jüdischem Koscherstempel besser zu verkaufen, so wie auch der Israelhass sich mit jüdischem Koscherstempel (vornweg: Adorno-Preisträgerin Judith Butler) besser promoten lässt, aber Deutschland hat doch reichlich Erfahrung damit, antilinke und pronazistische Ideologie gerade ohne und gegen Juden oder Israelis zu formulieren.

 

[i] Tagesspiegel, 23.07.2017, http://www.tagesspiegel.de/berlin/berlin-neukoelln-buchladen-schliesst-nach-attacken-von-links/20096078.html (eingesehen am 27.07.2017).

[ii] Die Welt, 24.07.2017, https://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article166945195/Nach-Drohungen-der-Antifa-muss-Buchladen-schliessen.html (eingesehen am 27.07.2017).

[iii] Junge Freiheit, 24.07.2017: „‘Es ist schlimm genug, eine Veranstaltung über die Idee einer suprafaschistischen Person in deinem eigenen Geschäft auszurichten, aber es ist nochmal etwas völlig anderes, wenn sich dein Geschäft auch noch inmitten von Neukölln befindet, einem Einwandererviertel‘, beschreibt Hamburger den Grundtenor der Kritik. Er habe sich daraufhin gefragt, ob es besser gewesen wäre, in Marzahn oder Lichtenberg über Evola zu diskutieren (ls)“, https://jungefreiheit.de/kultur/gesellschaft/2017/israelischer-buchladen-muss-nach-antifa-attacken-schliessen/ (eingesehen am 27.07.2017). Link zu dieser neu-rechten Agitationsseite absichtlich deaktiviert.

[iv] Die Zeit, 25.07.2017, http://www.zeit.de/gesellschaft/2017-07/topics-berlin-neukoelln-juden-israelischer-buchladen-schliessung/komplettansicht (eingesehen am 27.07.2017).

[v] Deutsche Welle (DW), 24.07.2017, http://www.dw.com/en/berlin-bookstore-shuts-down-after-leftist-boycott/a-39818955 (eingesehen am 27.07.2017).

[vi] Berliner Zeitung, 24.07.2017, http://www.berliner-zeitung.de/berlin/neukoelln-warum-ein-buchladen-israelischer-betreiber-schliessen-muss-28022990 (eingesehen am 27.07.2017).

[vii] Freitag, 24.07.2017, https://www.freitag.de/autoren/mladen-gladic/are-the-kids-alt-right (eingesehen am 27.07.2017).

[viii] https://www.facebook.com/TOPB3rlin/posts/10154945432445256 (eingesehen am 27.07.2017).

[ix] http://top-berlin.net/de/tags/antisemitismus (eingesehen am 27.07.2017).

[x] https://umsganze.org/ueber-uns/ (eingesehen am 27.07.2017).

[xi] https://www.facebook.com/topicsberlin/posts/2005480709696833 (eingesehen am 26.07.2017).

[xii] The Guardian, 22.02.2017, https://www.theguardian.com/uk-news/2017/feb/22/art-gallery-criticised-over-neo-nazi-artwork-and-hosting-racist-speakers (eingesehen am 27.07.2017).

[xiii] Brett Stevens, 22. Februar 2017, http://www.amerika.org/politics/the-guardian-doubles-down-on-lugenpresse-narrative-about-ld50-gallery/ (eingesehen am 27.07.2017), Übersetzung vom Verfasser. Ich habe den Link zu dieser Naziseite deaktiviert.

[xiv] Vice, 28. Februar 2017, https://www.vice.com/en_uk/article/78qzpx/should-free-expression-include-normalising-far-right-ideas (eingesehen am 27.07.2017).

[xv] New York Times, 25. Februar 2017, https://www.nytimes.com/2017/02/25/arts/design/london-gallery-ld50-alt-right-show-protest.html?mcubz=0 (eingesehen am 27.07.2017).

[xvi] Man kann DC Miller mit seinem Pappkarton hier sehen: https://pics.me.me/the-right-to-openly-discuss-ideas-must-be-defended-k-20808184.png (eingesehen am 27.07.2017). Ein Bericht zur Demonstration ist hier zu finden: Hackney Gazette, 27.02.2017, http://www.hackneygazette.co.uk/news/politics/ld50-gallery-anti-fascist-protesters-march-through-dalston-1-4907083 (eingesehen am 27.07.2017).

[xvii] Megan Nolan, 3. März 2017, https://thebaffler.com/latest/ld50-nolan (eingesehen am 27.07.2017).

©ClemensHeni

Nach G20-Protesten in Hamburg: Merkel, Scholz, Gabriel und die Demokratie oder „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ (Brecht)

Von Dr. phil. Clemens Heni, 9. Juli 2017

Die Gesellschaft in diesem Land erlebte die letzten Tage in Hamburg bei dem G20-Gipfel und den Protesten dagegen ultimativ, was es heißt, unter einer Großen Koalition zu leben.

Die Demokratie wird vom Staat mit Pfefferspray, unzähligen Hundertschaften, über 20.000 uniformierten und munitionierten Polizist*innen, SEK-Einheiten mit Maschinenpistolen im Anschlag, Knüppeln, brüllenden Polizist*innen und Menschen wie Dreck vom Pflaster wegspritzenden Wasserwerfern massiv beschädigt und bekämpft.

Freie Meinungsäußerung? Pustekuchen. Freie Presse? Von wegen. Verhältnismäßigkeit bei kleineren „Vergehen“ wie Vermummung? Niemals.

Das ganze Establishment dreht völlig durch und bezeichnet nun Randalierer, Gewalttäter und kriminelle Plünderer als „Linksfaschisten“, Außenminister Gabriel vergleicht gar die Randale von Hamburg mit tödlichen Brandanschlägen von Neonazis.

Keinerlei Unterschied scheint es zu geben zwischen dem Mord an als nicht-deutsch Stigmatisierten, wie ihn Neonazis begehen, und Kritik am Kapitalismus, so sinnlos und brutal die sich auch Freitagnacht im Schanzenviertel Hamburgs gezeigt haben mag.

Es waren zudem definitiv nicht nur politisch organisierte linke Aktivisten vor Ort, wie Augenzeugenberichten festhalten. Es war eine Mischung aus brutalen Aktivisten (auch internationalen), gewaltaffinen „Partygängern“, Frustrierten (die mal nen teuren Whiskey oder ein I-Phone klauen wollten) oder schlicht Trotteln.

Die Autonomen von der Roten Flora haben sich selbst von den Exzessen distanziert.

Der Spiegel-Online-Autor Sven Becker war an jenem Freitagabend im Hamburger Schanzenviertel unterwegs und kontextualisiert die Gewalt, zeigt soziale Problemlagen auf etc. Damit rechtfertigt er keine Gewalt, relativiert sie aber. Wir reden hier nicht über „Bürgerkrieg“ oder „Terrortaten“, wie viele Durchgeknallte es nun tun. Dann hätten sie einfach mal in Aleppo oder Mossul sein sollen, bevor sie so dumm daherreden.

Der Mainstreamdiskurs läuft so: Links gleich Rechts, die Extremismus- und die Totalitarismustheorie, das Lieblingskind nicht nur von Joachim Gauck („Prager Deklaration“ von 2008), das sind die bekannten Agitationswerkzeuge derjenigen, die Kritik diffamieren wollen und für die Gewalt immer nur von den anderen ausgeht.

Ist es keine Gewaltförmigkeit jene, die Auschwitz befreiten, mit denen auf eine Stufe zu stellen, die Auschwitz bauten und betrieben? Man ist kein Stalinist und verharmlost keine Millisekunde den Stalinismus, wenn man auf dieser alles entscheidenden Unterscheidung des 20. Jahrhunderts besteht: Rot ist nicht gleich Braun.

Wer das behauptet, möchte die Deutschen entlasten und entschulden und die präzedenzlosen Verbrechen des Nationalsozialismus, der Shoah und der deutschen Volksgemeinschaft banalisieren.

Hierzulande hießen und heißen die Revanchisten Nolte, Baberowski oder Horst Möller, und in USA heißen sie eben Timothy Snyder (schade, dass er auch noch aus YALE kommt, meiner Alma Mater).

Dabei gilt es die Randale und Kritik am Kapitalismus auf eine andere Ebene zu bringen. Das pro-kapitalistische Apriori von Merkel und allen G20-Beteiligten ist ja himmelschreiend und unerträglich.

Der Suhrkamp-Verlag hat 2016 ein Büchlein mit dem Titel Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank? Das Brecht-Brevier zur Wirtschaftskrise publiziert.

Nun ist es wichtig und richtig, kapitalistische Vergesellschaftung zu kritisieren. Linke Zionisten tun und taten das auch, ja die Verbindung von Sozialismus und Zionismus war für die frühe zionistische Bewegung und später für die ersten Jahrzehnte des Staates Israel von enormer Bedeutung.

Es gibt aber hierzulande seit sehr langer Zeit eine höchst gefährliche Form der Banken- oder Kapitalismuskritik, die gutes („schaffendes“) vom bösen („raffendem“) Kapital unterschieden wissen möchte. Die anti-mammonistische Agitation ist da nicht weit, und die Forschung hat dazu katholische Beispiele aus der Weimarer Republik, sodann Nazipropaganda aber auch Post-Holocaust Agitation gegen Mammon von der (radikalen) Linken analysiert.

Zu dieser Form antisemitischer Kapitalismuskritik, die im Kern das Kapitalverhältnis affirmiert und nur böse Einzelne als Schuldige präsentiert, gesellt sich seit 2005 die BDS-Bewegung (Boycott Divestment Sanctions), die Israel dämonisiert, mit doppelten Standards betrachtet und delegitimiert (die 3Ds, Demonization, Double Standard, Delegitimization).

Doch diese Debatten spielten in Hamburg offenbar kaum eine Rolle.

Die Eskalation ist eine Blamage für die Demokratie“, wie es Jan Thomsen, Journalist bei der Berliner Zeitung, in Worte fasst.

Es waren polizeistaatsmäßige Festspiele der zynischen Art. Zu Beethovens Neunter und der Passage „Alle werden Brüder“ (und Schwestern) in der offenbar ausschließlich für diesen einen Anlass gebauten Elbphilharmonie werden Islamisten, Sexisten und antidemokratische Staatsoberhäupter wie Erdogan, Trump oder Putin und aus anderen Teilen der Welt wie Lateinamerika oder China getätschelt.

Sie beklatschen sich selbst während draußen Linke und Kritiker*innen mundtot gemacht werden sollen, vor Angst zittern, heulen und vor Schmerzen, brennenden Augen und Atemnot umfallen.

Und dann gibt es jene selber ernannten „Antideutschen“, die dieses Land im Kern affirmieren und feixend den live-ticker auf Facebook oder im Fernsehen die Live-Reportage sehen, genüsslich ihren Kaffee im aseptischen, ausbeutungsfreien Starbucks schlürfen und hoffen, dass noch die letzten autonomen Zentren geräumt und zerstört werden.

Diese marginale Gruppe von turbo-neoliberalen prodeutschen Antideutschen, die die G20-Proteste schon im Vorfeld diskreditierte und dabei häufig „nur“ die antisemitischen Elemente der Proteste anführte und damit ALLE Linken meinte (da lacht die BILD-Zeitung natürlich), fühlt sich umso cooler, als sie sich pro-israelisch gibt.

Dazu geben Teile der Linken, der antisemitische Flügel, seit Jahrzehnten zur Genüge Anlässe. So wie jetzt wieder (kleine?) Gruppen bei den G20-Protesten, die die „Einstaatenlösung“ für den israelisch-palästinensischen Konflikt (der ja Teil des arabisch-israelischen Konfliktes ist, was viele nicht sehen) präferieren und somit den jüdischen Staat Israel auflösen wollen und sich ironischerweise mit der extremen (nationalen, religiösen) Rechten in Israel treffen.

Polizist*innen schlugen die letzten Tage brutal und mit einer gleichsam militärischen Ausrüstung zu. Journalisten wurde von Polizistinnen und Polizisten ins Gesicht „Fuck the Press“ geschrien und wenig später Pfefferspray ins Gesicht gesprüht – staatliche Körperverletzung und Aussetzen von Grundrechten. Das ist nicht nur Istanbul, Izmir oder Ankara 2017. Das ist nicht nur Erdogan. Das ist Deutschland 2017. Das ist die Große Koalition. Das ist die SPD Hamburg. Das ist die Polizeiführung Hamburg. Das ist die Merkel-Gabriel-Regierung. Das ist G20.

Die zentrale linksradikale, autonome Demonstration „Welcome to Hell“ wurde gar nicht erst laufen gelassen und Vermummung von kleineren Teilen der Demo wurde zum Anlass genommen, mit äußerster Brutalität eine Demo regelrecht zusammenzuschlagen und das Grundgesetz außer Kraft zu setzen.

Das ist Teil des elenden Erbes von Helmut Kohl, über dessen „geistig-moralische“, ergo: nationalistische „Wende“ und Antisemitismus (Bitburg, SS-Gräber) ja so gut wie niemand redete bei dessen peinlich-monströsem EU-Staatsbegräbnis.

Unter Kohl wurde nämlich die Vermummung 1985 von einer Ordnungswidrigkeit zu einer Straftat uminterpretiert.

Der Protest an sich wurde von Seiten des Staates mit vielen Wochen Vorlauf vollständig diskreditiert. Die bekannten Agitationsplattformen wie WELT (Poschardt), Achgut (Maxeiner), die CDU und viele andere überschlagen sich nun mit „Linksfaschismus“-Gerede.

Sie wollen Nazi-Gewalt trivialisieren und Mord und Plünderung gleichsetzen.

Manche verglichen die antisemitischen Pogrome vom 9. November 1938 mit der Randale in Hamburg. Diese Verharmlosung des Nationalsozialismus läuft in Deutschland runter wie Honig. Es entlastet und die reaktionären Bürger fühlen sich wohl dabei.

Was in Hamburg passierte, wie es kommentiert und eingeordnet wird, schädigt die politische Kultur in diesem Land über viele Jahre hinweg.

Über den Suhrkamp-Band Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank von Brecht könnte man lebhaft diskutieren. Manche könnten lernen, dass es auch eine nicht antisemitische Kapitalismuskritik geben kann und dass gar viele Zionisten vor und nach der Gründung des Staates Israel antikapitalistisch drauf waren und sind.

Wären wir im Jahr 1967, würde es nächstes Jahr ein 1968 geben.

©ClemensHeni

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